Hin und wieder werden Hunde mit einem hängenden Unterkiefer in der Praxis vorgestellt. Sie sind nicht mehr in der Lage zu kauen, das Futter fällt aus dem Maul. Nicht selten sind die BesitzerInnen der Hunde in heller Aufregung, da ihr Hund so kein Futter- und vor allem auch kein Wasser aufnehmen kann. Doch hinter dem doch sehr beeindruckenden klinischen Bild, steckt in den meisten Fällen eine eher gutartige Erkrankung und den Patienten kann mit ein paar Tricks bei der Futter- und Wasseraufnahme auch schnell geholfen werden.
Abbildung 1: Hund mit „dropped Jaw“ – einem herabhängendem Unterkiefer. Ein selbstständiger Kieferschluss ist nicht möglich, daher auch keine eigenständige Futter- oder Wasseraufnahme. Gut sichtbar ist die vermeintliche Hypersalivation (Schaum am Maul), welche durch das Unvermögen den eigenen Speichel kontrolliert abzuschlucken zu Stande kommt. Im Gegensatz zu dem Hund auf der Abbildung sind vorwiegend mittel – bis langschnauzige Hunde vom „dropped Jaw“ betroffen.
Das sogenannte „dropped Jaw“ bezeichnet das klinische Bild eines Herabhängenden Unterkiefers, sowie die Unfähigkeit den Kiefer aus eigener Kraft zu schließen. Aufgrund des Unvermögens den Kiefer zu schließen, ist der Kauakt gestört und es kommt zu erheblichen Problemen bei der Futter- und Wasseraufnahme. Auch der eigene Speichel kann nur schwer kontrolliert abgeschluckt werden.
Die Ursache für ein „dropped Jaw“ ist eine beidseitige Trigeminuslähmung. Eine einseitige Lähmung des Nervens würde nicht zu diesem klinischen Bild führen, da die zweite intakte Seite weiterhin einen funktionellen Kieferschluss ermöglichen würde.
Der Nervus trigeminus ist der V. Hirnnerv und der längste Hirnnerv, sowie der größte sensible Nerv des Kopfes. Zudem innerviert er die Kaumuskulatur motorisch. Er teilt sich in 3 große Äste – den Ramus maxillaris, den Ramus ophthalmicus und den Ramus mandibularis. Letzterer führt die motorischen Fasern für die Innervation der Kaumuskulatur. Bei einer beidseitigen Trigeminuslähmung kann es daher neben dem auffälligen klinischen Bild des „dropped Jaw“ auch hin und wieder zu sensorischen Defiziten durch Sensibilitätsverlusten im Bereich des Kopfes kommen, meist ist aber nur der Ramus mandibularis beidseits betroffen.
Die Ursache der Trigeminuslähmung ist in den meisten Fällen eine beidseitige idiopathische Trigeminusneuropathie (alternative Bezeichnungen: idiopathische Trigeminusneuritis oder Trigeminusneuropraxie). Eine Ätiologie ist derzeit noch unbekannt, es werden u.a. autoimmune oder allergische Prozesse vermutet. Auch eine Überdehnung durch das Tragen von schweren Objekten im Maul wurde postuliert, konnte aber nicht bewiesen werden, da dies bei den meisten Patienten in der Anamnese nicht bestätigt werden konnte. Die idiopathische Trigeminuslähmung wird häufiger bei mittel- und langschnauzigen Hunden beobachtet. Der Goldene Retriever ist überrepräsentiert, aber auch Jagdhunde werden regelmäßig vorgestellt. Es sind bezüglich Alter, Geschlecht oder saisonales Vorkommen keine Prädispositionen bekannt.
Differentialdiagnostisch sollte bei einem herabhängenden Kiefer auch immer an eine Luxation oder Subluxation des Kiefergelenks oder an eine Unterkieferfraktur gedacht werden. In diesen Fällen ist in der Regel ein Trauma vorangegangen, was gegebenenfalls auch beobachtet wurde und womit es anamnestisch eventuell schon einen Hinweis auf eine traumatische Ursache gibt. Zudem sind die Tiere beim Versuch des Untersuchers den Kiefer zu schließen oft deutlich schmerzhaft und vor allem im Falle einer (Sub)Luxation des Kiefergelenks ist keine kongruente Okklusion gegeben oder der Kiefer kann gar nicht geschlossen werden (Kiefersperre). Auch Fremdkörper im oropharyngealen Bereich oder im Bereich der Kaumuskulatur können zu einem veränderten Kieferschluss führen, sind aber in Regel eher mit einer Kiefersperre und deutlichen Schmerzen bei der Fangbewegung verbunden. Bei einem neurologisch bedingtem „dropped Jaw“ lässt sich der Unterkiefer ohne Widerstand schließen, die Tiere zeigen sich dabei nicht schmerzhaft und der Kieferschluss ist regelrecht. Sobald der Untersucher den Unterkiefer loslässt, fällt dieser wieder herunter in die Ursprungsposition. Die willkürliche Zungenmotorik ist unverändert erhalten. Bei länger anhaltender Symptomatik kann eine Muskelatrophie der Kaumuskulatur auftreten.
Weiterhin sollte bei einem „dropped Jaw“ differentialdiagnostisch an infektiöse Ursachen, allen voran Neosporose, Toxoplasmose und Kryptokokkose, und an ein Lymphom (neoplastische Infiltration des Nervens) gedacht werden. Auch ausgedehnte Hirnstammläsionen, wie zum Beispiel bei einer Staupe-Enzephalitis oder bei einer Meningoenzephalitis of unknown origin (MUO), können ein „dropped Jaw“ verursachen, allerdings wären in diesen Fällen auch andere Hirnnerven (aufgrund der Nähe der Kerngebiete im Hirnstamm zueinander) betroffen und wir würden weitere neurologische Ausfälle sehen und der Hund würde nicht gut gelaunt vor uns stehen. Weitere neurologische Symptome, die im Falle einer Hirnstammläsion auftreten können sind: reduziertes Bewusstsein bis Koma, Kopfnervenausfälle des III. bis XII. Hirnnervens, Tetraparese, Hemiparese, reduzierte bis ausgefallene Propriozeption aller vier Gliedmaßen oder ipsilateral, Opisthotonus, abnorme Atemmuster, veränderte Herzfrequenz und die Dezerebrationshaltung.
Bezüglich des Auftretens von assoziierten Hirnnervenausfällen muss beachtet werden, dass bei der idiopathischen Trigeminusneuropathie in wenigen Fällen auch über eine ein- oder beidseitige Fazialisparese, ein Hornersyndrom oder über eine peripher vestibuläre Komponente (N. vestibulocochlearis) berichtet wurde. Dies wurde mit der anatomischen Nähe der Nerven während ihres Verlaufes innerhalb des Felsenbeinknochens begründet.
Hin und wieder tritt eine Trigeminuslähmung auch im Zusammenhang mit einer schweren peripheren Polyneuropathie auf.
Auch wenn Deutschland seit 2008 als frei von der terrestrischen Tollwut gilt, sollte der Vollständigkeit erwähnt werden, dass die Tollwut eine wichtige Differentialdiagnose der Kieferlähmung darstellt. Besonders bei nasaler Aufnahme hat das Tollwutvirus eine erhöhte Affinität zum Nervus trigeminus. Allerdings sind durch die Enzephalitis auch hier andere neurologische Auffälligkeiten in diesem Zusammenhang üblich (Angst, Unruhe, Hypersalivation, Fieber, Lähmungen, Muskelschwäche, Atem- und Schluckprobleme, Koma, Tod).
Die idiopathische Trigeminusneuropathie stellt eine Ausschlussdiagnose dar. Daher ist in erster Linie eine gründliche allgemeine und neurologische Untersuchung notwendig, um die Diagnose aussprechen zu können. Bei Abwesenheit von traumatischen Läsionen (Kiefergelenksluxation, Kieferbruch, Fremdkörper) und anderen neurologischen Ausfällen (siehe oben), sowie einem guten Allgemeinbefinden und akutem Auftreten des „dropped Jaws“, kann auch einige Wochen abgewartet werden. Im Idealfall wird noch eine Serologie auf Antikörper gegen Neospora canium, Toxoplasma gondii und Cryptococcus sp. eingeleitet. Wenn keine Besserung eintritt oder zusätzliche Ausfälle auffallen, sollte unbedingt weiterführende Diagnostik in Form einer MRT-Untersuchung des Kopfes und einer Liquoranalyse zum Ausschluss anderer Ursachen durchgeführt werden. Ein EMG (Elektromyogramm) der Kaumuskulatur kann bei der Diagnose einer beidseitigen Trigeminusneuropathie hilfreich sein.
Die Behandlung beschränkt sich im wesentlichem auf die Unterstützung bei der Fütterung und der Wasseraufnahme. Das geht gut mit einer lockeren Maulschlinge aus kohäsiven Binden oder einem nicht zu festen Nylonmaulkorb. Dadurch, dass das Maul so passiv weitgehend zugehalten wird, kann der Hund durch den kleinen Spalt der bleibt Wasser aufnehmen oder Futterbrei schlecken. Eine weitere Möglichkeit ist es das Maul nach der Eingabe von Futterbrocken zuzuhalten. Die Wasseraufnahme wird mit der Schlinge oder dem Maulkorb vereinfacht oder sollte mit einer Spritze eingegeben werden. Es sollte auf eine adäquate Menge an Wasseraufnahme geachtet werden, da die betroffenen Tiere leicht dehydrieren. Die idiopathische Form heilt in der Regel in etwa 3 Wochen (teils bis zu 9 Wochen) aus.
Eine Gabe von Cortison oder Prednisolon zeigte keinen Benefit in der Behandlung. Eine unterstützende Gabe von B-Vitaminen zur Förderung des Nervenstoffwechsels ist sicherlich nicht nachteilig.
Zum Weiterlesen
Musso C, Le Boedec K, Gomes E, Cauzinille L. Diagnostic Values of Clinical and Magnetic Resonance Findings in Presumptive Trigeminal Neuropathy: 49 Dogs. J Am Anim Hosp Assoc. 2020 Mar/Apr;56(2):106-113. doi: 10.5326/JAAHA-MS-6997. Epub 2020 Jan 21.
Mayhew PD, Bush WW, Glass EN. Trigeminal neuropathy in dogs: a retrospective study of 29 cases (1991-2000). J Am Anim Hosp Assoc. 2002 May-Jun;38(3):262-70. doi: 10.5326/0380262.
Fairley RA, Knesl O, Pesavento PA, Elias BC. Post-vaccinal distemper encephalitis in two Border Collie cross littermates. N Z Vet J. 2015 Mar;63(2):117-20. doi: 10.1080/00480169.2014.955068. Epub 2015 Jan 19.
Pfaff AM, March PA, Fishman C. Acute bilateral trigeminal neuropathy associated with nervous system lymphosarcoma in a dog. J Am Anim Hosp Assoc. 2000 Jan-Feb;36(1):57-61. doi: 10.5326/15473317-36-1-57.
Robins GM. Dropped jaw-mandibular neurapraxia in the dog. J Small Anim Pract. 1976 Nov;17(11):753-8. doi: 10.1111/j.1748-5827.1976.tb06939.x. PMID: 1011801.
Über Dr. Sarah Gutmann
Sarah Gutmann ist Fachtierärztin für Klein- und Heimtiere mit der Zusatzbezeichnung Neurologie und der Zusatzbezeichnung Physiotherapie. Ihre Expertise und Leidenschaft gilt der klinischen Neurologie und Neurorehabilitation. Im Bereich Rehabilitation hat sie sich als Certified Canine Rehabilitation Practitioner (CCRP) und Akademische Expertin für veterinärmedizinische Physikalische Therapie und Rehabilitation (Universität Wien) qualifiziert.
Nach ihrer Promotion und Tätigkeit in der Abteilung für Neurologie und Neurochirurgie in Leipzig, hat sie NEUROVETMOVE, eine spezialisierte Tierarztpraxis für Neurologie und Physiotherapie in Markkleeberg, gegründet und steht dort als Ansprechpartnerin zur Verfügung.
Sarah Gutmann ist Fachtierärztin für Klein- und Heimtiere mit der Zusatzbezeichnung Neurologie und der Zusatzbezeichnung Physiotherapie. Ihre Expertise und Leidenschaft gilt der klinischen Neurologie und Neurorehabilitation. Im Bereich Rehabilitation hat sie sich als Certified Canine Rehabilitation Practitioner (CCRP) und Akademische Expertin für veterinärmedizinische Physikalische Therapie und Rehabilitation (Universität Wien) qualifiziert.
Nach ihrer Promotion und Tätigkeit in der Abteilung für Neurologie und Neurochirurgie in Leipzig, hat sie NEUROVETMOVE, eine spezialisierte Tierarztpraxis für Neurologie und Physiotherapie in Markkleeberg, gegründet und steht dort als Ansprechpartnerin zur Verfügung.



